Der kostbare Blickwinkel eines Anfängers
oder warum man die Geisteshaltung eines Anfängers nie ablegen sollte
Ratschläge eines Reitlehrers an einen neugierigen Einsteiger
Anfänger zu sein, hat für viele etwas Peinliches, bedeutet für sie ein Zustand, aus dem sie möglichst schnell herauskommen möchten...
Dabei solltest du die einmalige Zeit als Anfänger geniessen und dir bewusst sein, dass dir die dazu gehörende "Narrenfreiheit" erlaubt, jede noch so ausgefallene Frage zu stellen, Dinge auszuprobieren und zu experimentieren. Wenn etwas (noch) nicht funktioniert, ist das in Ordnung. Du hast es (noch) einfach, dir und deinem Pferd zu vergeben, weil du ja Anfänger bist.
Aber dann, zwei oder drei Jahre später schlüpfst du aus diesem Status heraus. Du beginnst mit einem Zeitplan zu arbeiten, innerhalb welchem du das eine oder andere Ziel erreichen möchtest. Du setzt nun höhere Erwartungen an dich und dein Pferd. Immerhin hast du dich ja schon einige Zeit mit dieser Reiterei auseinandergesetzt. Aber trotzdem, egal wie lange du schon geritten bist, die Pflege der Anfänger-Haltung ist wesentlich für weitere Fortschritte auf dem Wege des Reitenlernens.
Der Blickwinkel eines Anfängers ist eine Art Einstellung, die Zweifel einschliesst, aber auch die Möglichkeit, alle Dinge völlig vorurteilslos zu betrachten. Der Anfänger ist aufmerksam und begierig auf alles Neue, er ist offen und bereit, zu vertrauen. Er ist noch unbeeinflusst von Erfahrungen, Erwartungen oder Ängsten. Er sorgt sich weder um Vergangenheit noch Zukunft seines hippologischen Tuns. In jeder Reitstunde lebt er in der Gegenwart und seine Perspektiven sind noch grenzenlos.
Was heisst es nun, mit der Einstellung eines Anfängers zu reiten?
Es bedeutet, keine zu spezifischen Erwartungen in eine einzelne Lektion zu stecken. Was nützt es, wenn du dir vornimmst, heute am Angaloppieren zu arbeiten, das Pferd aber schon beim Aufsteigen ängstlich, abgelenkt, nervös oder unkonzentriert ist. Die Unwissenheit des Anfängers erlaubt es dir, dich in das neue Problem zu vertiefen und dich auf die Stimmung des Pferdes zu konzentrieren. Du darfst neugierig werden und fragen, was mit dem Pferd los ist, dass es nicht still stehen kann und was du tun musst, um dem Pferd zu helfen. Und möglicherweise wird dich gerade die Lösung dieses Problems zu einem neuen unerwarteten Erfolgserlebnis führen.
Die Unerfahrenheit des Anfängers bedeutet Offenheit zum Lernen. Gute Lehrer können dir entscheidende Denkanstösse vermitteln und dich und dein Pferd prägen. Scheue dich nicht, Fragen zu stellen. Vergrössere deinen Blickwinkel, indem du dieselben Fragen an verschiedene Leute stellst. Die Antworten werden positive Zweifel in dir wecken.
Viele unbedarfte Anfänger verbauen sich ihren Horizont dadurch, dass sie sich die Lehren eines einzigen Idols einverleiben und weiteren Erkenntnissen gegenüber verschlossen bleiben. Es gibt keinen einzigen Lehrer auf der Welt, der alle Fragen beantworten kann. Deswegen lohnt es sich, auch jene Gurus zu hinterfragen, deren Anhängerschaft bereits monumentale Grösse erreicht hat...
Um herauszufinden, ob du auf dem richtigen Weg bist, brauchst du nur auf dein Pferd zu hören. Es wird dir sagen, ob das, was du gelernt hast und nun anwendest, gut für euch beide ist. Wenn es einen Lehrer gibt, der dir immer die Wahrheit erzählt, so ist es dein Pferd.
Als Anfänger nimmt das Pferd deine Aufmerksamkeit voll und ganz in Anspruch. Das heisst, wenn du reitest, bis du auf nichts anderes konzentriert als auf das, was unter dir geschieht. Du bist gar nicht imstande, etwa an Probleme oder unerledigte Dinge zu Hause oder bei der Arbeit zu denken. Stattdessen bis du gefangen genommen vom Augenblick, von den Bewegungen des Pferdes, vom Gefühl der Zügel in deinen Händen und ihrer Verständigung mit dem Pferdemaul.
Diese Konzentration auf den Augenblick wird dir einmal helfen, zu bemerken, ob dein Pferd auf dem richtigen Fuss angaloppiert oder nicht und wird dich lehren, beim nächsten Mal noch präziser einzuwirken.
Als Anfänger musst du bereit sein zu vertrauen. Vertraue deinem Pferd, vertraue dir selbst! Und das nächste Mal, wenn du dich in den Sattel schwingst, reite dein Pferd mit der Neugier und der Offenheit des Anfängers. Wenn du keine Gedanken an Leistung oder an dich selbst verschwendest, bist du ein wahrer Anfänger und kannst wirklich etwas lernen.